Seitenbeginn . Zur Hauptnavigation . Zum Seiteninhalt

Sozialrecht im Alltag

An dieser Stelle sollen Ihnen Gerichtsentscheidungen vorgestellt werden, die typisch für den sozialgerichtlichen Alltag sind.

Hinweis: Es handelt sich ausschließlich um Einzelfälle. Für vermeintlich ähnliche Fälle lässt sich daraus nichts ableiten. Die Darstellung der Rechtslage ist verkürzt, um sie möglichst einfach und allgemein zu halten. Diese Informationen sollen nur einen ersten Überblick über den Alltag der Sozialgerichte bieten und ersetzen in keinem Fall eine qualifizierte Rechtsberatung.

  • Arbeitslosengeld „echter bzw. unechter Grenzgänger „

    Hat man auch dann einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn man vorher ausschließlich in der Schweiz gearbeitet hat?

    Urteil LSG Thüringen Az.: L 10 AL 1046/20

    Der Sachverhalt

    Der Kläger begehrte ab 01. Januar 2020 die Gewährung von Arbeitslosengeld. Er war von 2011 bis 31. Dezember 2019 in der Schweiz in Vollzeit beschäftigt. Seit dem Jahre 2014 lebte er mit seiner Lebensgefährtin in einer gemeinsamen Wohnung in der Schweiz. Im Jahre 2018 wurde die gemeinsame Tochter in der Schweiz geboren. Die Arbeitsverhältnisse sowohl des Klägers als auch der Lebensgefährtin wurden zum 31. Dezember 2019 beendet.

    Seinen Antrag, ihm nach Rückkehr nach Deutschland ab 01. Januar 2020 Arbeitslosengeld zu gewähren, lehnte die Bundesagentur ab. Die Beschäftigung in der Schweiz könne keine Berücksichtigung finden, weil der Lebensmittelpunkt des Klägers mit seiner Familie in der Schweiz gewesen sei. Dagegen wandte der Kläger ein, dass sein Aufenthalt in der Schweiz nicht auf Dauer angelegt gewesen sei. Es sei von vorn herein beabsichtigt gewesen, wieder nach Deutschland zurück zu kehren. Der Kontakt zu seiner und der Familie der Lebensgefährtin in Thüringen sei regelmäßig gepflegt worden.  Er sei in der Wohnung seiner Mutter gemeldet gewesen, sie seien zweimal im Monat nach Thüringen gefahren, hätten am Familienleben teilgenommen und ihre Aktivitäten in den dortigen Vereinen fortgesetzt. Die Bundesagentur wendet dagegen ein, dass es bei einer einfachen Fahrstrecke von etwa 650 km nicht nachvollziehbar sei, von einem Lebensmittelpunkt in Thüringen auszugehen. Der Senat hat die Lebensgefährtin des Klägers in der mündlichen Verhandlung als Zeugin vernommen.

     

    Das Urteil

    Nach Durchführung einer Beweisaufnahme hat das Landessozialgericht die Abweisung der Klage durch das Sozialgericht bestätigt. Die Versagung von Arbeitslosengeld I sei rechtmäßig gewesen. Da der Kläger vor dem 01. Januar 2020 nicht im Geltungsbereich des SGB III beschäftigt gewesen sei, sei die erforderliche Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Die Beschäftigungszeit in der Schweiz könne grundsätzlich keine Berücksichtigung finden. Etwas Anderes ergebe sich auch nicht aus EU-Recht. Die entsprechenden Regelungen des EU-Rechts seien nach zwischenstaatlichen Abkommen zwar auch auf die Schweiz anwendbar. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts war der Kläger aber weder echter noch unechter Grenzgänger. Grenzgänger ist eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt. Der Kläger ist weder täglich noch zumindest einmal wöchentlich nach Thüringen zurückgekehrt. Er ist auch nicht als sogenannter unechter Grenzgänger einzustufen. Danach besteht unter engen Voraussetzungen die Möglichkeit, dass auch eine Person, die nicht wöchentlich in ihr Heimatland zurückkehrt, für den Fall, dass sie in dem anderen Mitgliedstaat den gewöhnlichen Lebensmittelpunkt beibehält, als unechter Grenzgänger ausgesehen werden kann. Grundsätzlich ist dabei davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat über einen festen Arbeitsplatz verfügt, dort auch wohnt. Bei der Klärung der Frage, ob der Kläger auch während seiner Beschäftigung in der Schweiz in Deutschland in diesem Sinne noch gewohnt hat und somit als unechter Grenzgänger einzustufen ist, ist auf eine Vielzahl von Kriterien, wie die Dauerhaftigkeit der Tätigkeit, die Dauer des Arbeitsvertrages, seine Wohnsituation, seine familiären Verhältnisse und Bindungen und weitere Umstände abzustellen. Nach diesen Maßstäben hat die Beweisaufnahme nicht ergeben, dass der Kläger seinen gewöhnlichen Lebensmittelpunkt in Deutschland hatte. Vielmehr ist der Senat zur Überzeugung gelangt, dass der Kläger seinen Wohnort und den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen bis zur Rückkehr nach Deutschland in der Schweiz hatte. Ausschlaggebend hierfür war, dass sein Aufenthalt ab dem Jahre 2011 und insbesondere seit dem Zuzug der Lebensgefährtin 2014 nicht nur einem von vorn herein begrenzten Zweck diente. Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses lebten beide seit mehr als 8 Jahren in der Schweiz und hatten dort eine nicht befristete Vollzeitarbeitsstelle. Der Kläger und seine Lebensgefährtin bewohnten ab 2018 mit dem gemeinsamen Kind die schon vorher genutzte Vier-Zimmer-Wohnung in der Schweiz. Die gemeinsame Tochter wurde in der Schweiz geboren. Diese Lebensumstände belegen nach Auffassung des Senats, dass der Kläger seinen Lebensmittelpunkt in der Schweiz hatte. Die noch engen Beziehungen nach Thüringen führten zu keiner anderen Beurteilung. Dass der Kläger und seine Lebensgefährtin insbesondere nach der Geburt der gemeinsamen Tochter den Entschluss fassten, nach Deutschland zurück zu kehren, hat der Senat dahingehend verstanden, dass sie ihren Lebensmittelpunkt zurückverlegen wollten. Die zweimaligen Besuche im Monat in Thüringen reichen nicht aus, von der Begründung eines Lebensmittelpunktes in Deutschland ab einem bestimmten Zeitpunkt auszugehen.

    Die Entscheidung ist rechtskräftig geworden. Grundsätzlich hätte der Kläger mangels Nichtzulassung der Revision durch den Senat Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundessozialgericht einlegen können.

     

    Die rechtlichen Grundlagen

    Nach § 142 Abs. 1 Satz 1 SGB III hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Rahmenfrist mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat. Nach § 143 Abs. 1 SGB III beträgt die Rahmenfrist 30 Monate und beginnt mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Nach § 3 Abs. 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) gelten die Vorschriften über die Versicherungspflicht und die Versicherungsberechtigung für alle Personen, die im Gel-tungsbereich dieses Gesetzes beschäftigt sind. Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts bleiben unberührt (§ 6 SGB IV).

    Die Verordnung (EG) über soziale Sicherheit Nr. 883/2004 gilt seit dem 01.05.2010 und koordiniert die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. In diesem Regelwerk findet sich in Art. 1 lit. f) VO (EG) 883/2004 die Definition des sog. (echten) Grenzgängers, die in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich in den Wohnmitgliedstaat zurückkehren. Nach der Rechtsprechung gelten die Regelungen auch für den sog. unechten Grenzgänger. Dieser kehrt zwar nicht wöchentlich in den Mitgliedsstaat zurück, aus den sonstigen Umständen lässt sich jedoch ausnahmsweise eine so ausgeprägte Bindung an den Mitgliedsstaat ableiten, dass die Grenzgängereigenschaft zu bejahen ist.

     

    Weiterer Hinweis

    Grundsätzlich hatte dem Kläger aufgrund der in der Schweiz gezahlten Beiträge zur dortigen Arbeitslosenversicherung ein Anspruch auf Arbeitslosengeld nach Schweizer Recht zugestanden. Dieser Anspruch scheiterte aber daran, dass der Kläger aufgrund der Rückkehr nach Deutschland der Schweizer Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand.